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Speisewaggon, Buchmesse und Babys

1

Am 14.10.2015 fuhr ich zur ersten öffentlichen Ankündigung unseres Babys nach Frankfurt am Main. Es war ja zunächst nur die Ankündigung einer Schwangerschaft, denn unser Baby ist noch ein Fet, muß intrauterin ordentlich wachsen und der Geburtstermin ist wegen der Unsicherheit des Empfängnistermins auch nicht ohne große Schwankungsbreite zu berechnen. Genau genommen steht nicht ein Mal der Vater fest. Seis drum! Dennoch ein dreifaches Vivat, Crescat, Floreat und einen guten Start ins Leben lieber Tell!
Also deswegen war ich in Frankfurt und teilte dieses Reiseziel – im doppelten Sinn – mit Tausenden, die auch in der hessischen Metropole ihr Baby vorstellen wollten. Bei solch einem Schaulaufen wird ja jeder und jede zur Löwenmutter. Das eigene Baby den Kritikern und deren so humorlosen Rosthämmern überlassen? Das kann weh tun. Wer hört schon gerne das Wort Minderbegabung? Obwohl es doch so häufig nicht unplausibel erscheint.
So etwa stellte ein bekannter Kinder- und Jugendpsychiater seinen neuesten alarmistischen Erguß vor, seine Warnung vor den digitalen Drogen, die unsere Kinder direkt in die infantile Verdummung treiben, in die Sofortbefriedigung. Er aber hob mahnend und warnend seine tiefe, Kompetenz suggerierende Stimme und forderte zugleich ein Ende der Überbehütung, ein Ende des ständigen Helikopterkreisens der überbesorgten Eltern. Nun, das mag ja alles zutreffen. Kritisiert man diesen seriösen Bestsellerautor aber ein Mal, so setzt er sich selbst ins Cockpit, bringt die Rotorblätter in Schwung und schwebt durch die Messehallen. Hände weg von meinem Baby….

Und unser Baby? Nun, es gab Reaktionen, teilweise auch weniger freundliche, und auch ich habe für fünf Minuten im Heli gesessen ! Aber insgesamt leide ich an Flugangst, das wird kein Dauerzustand werden! Und überhaupt: Für literarische Babys gibt es zu Recht keinen Kinderschutz. Auf den kleinen Tell darf man also ruhig drauf treten. Gegensätzlich zu einem Kind wird eine Literaturzeitung eine solche Behandlung immer überleben, wenn sie denn lebensfähig ist.

Naja, also das war die Messe. Nichts Großes, nichts Unerwartetes. Eigentlich:

Überall und weit und breit
nur Löwenmutters Eitelkeit.

Und so fuhr ich nach Hause, denselben Weg, den ich gekommen. Was dann folgte, ist beinahe unglaublich.

2

Wieder vier Stunden Deutsche Bahn mit allen Unwägbarkeiten. Die Eindrücke der Messe waren zu frisch, um sie zu rekapitulieren und auch zu wenig eindrücklich. In dieser indifferenten Stimmung ging ich in den Speisewagen. Dazu ein geständnis: Ich liebe Speisewagen, liebe das Essen und Trinken in Fahrt und gleichzeitig denke ich an Cary Grant und Eva Maria Saint, an Hitch, an Highsmith, an verschwundene Damen, an den Orient-Express, an Züge überhaupt. An Eisenbahngeschichten, eine der schönsten übrigens, die ich kenne, ist mir noch immer Rhys Davies „Reise nach London“.
Das nur nebenbei und doch war es in mir, als ich den Speisewagen betrat und zu einem sympathisch aussehenden, älteren Herren ging, der alleine an einem „Zweier“ saß. Meine obligate Frage wurde bejaht und so setzte ich mich zu ihm. Er las eine Zeitschrift, den „Cicero“, wie ich später sah. Dann sprach er mich mittels eines Goethezitats an – wir waren ja in Frankfurt – und als er bemerkte, dass ich das Zitat sehr wohl erkannt hatte und es fortführen konnte, legte er seine Zeitschrift weg und wir – eigentlich nur er – kamen ins Erzählen. Nach allgemeinem, nicht uninteressanten Smalltalk dann der erste Nadelstich, es ging über Flüchtlinge und es war auch schnell klar, was dieser ältere Herr von ihnen und von der Politik der Kanzlerin hielt, nämlich nichts.

Dazu ein – vielleicht auch entschuldigender – Einschub: Ich persönlich bin bei solchen Diskussionen mit Fremden immer ein wenig zurückhaltend. Moral darf nie die primäre Analyse vernebeln und niemals das Zuhören verhindern. Mit moralinsauren Hüftwürfen, die einzig und alleine das Ziel haben, den Anderen aufs faschistische Kreuz zu legen, ist niemandem gedient. Da ist das Hannah Arendtsche „Ich will verstehen“ in mir. Andererseits kann diese abwartende Haltung dazu führen, dass man selbst dann im Lauf eines solchen Gesprächs kaum noch zum Zuge kommt und der Andere sich unberechtigterweise in seiner Position bestärkt fühlt.

Genau das passierte hier und zugleich outete sich mein Gesprächspartner schnell als ein politischer Entscheidungsträger einer Partei: Der AfD!!!
Nun wollte ich sogar schweigen, nun wollte ich nur zuhören, denn nun witterte ich die Chance, einem AfDler der ersten Reihe beim Darlegen seiner Ideologie ins Herz zu schauen. So kam es dann auch….
Erst ein Mal bezeichnete er sich als Luckes Mörder und gab vermeintliches Insiderwissen über dessen Charaktereigenschaften preis. Aber das wohl nur, um sich zu legitimieren. Sodann die Begründung seiner Meinung: Das genetische Material, das da nun nach Dtl käme, sei – ähnlich dem Material damals aus Anatolien – minderwertig, reproduziere sich aber enorm. Wer könne so etwas gebrauchen? Die Fakten seien klar (saugte er diese „Fakten“ aus dem „Cicero“?). Hier warf ich wenigstens ein, dass es eine kontinuierliche Steigerung der Schulbildung der deutschen Türken gegeben hätte, von der ersten bis zur dritten hier lebenden Generation. Alles falsch, so er! Aha dachte ich: die Lügenpresse.
Weiterhin müsse auf die Elite gesetzt werden, Leistung nicht diskreditiert werden. Als Beispiel natürlich Frau Petry, Naturwissenschaftlerin mit Prädikatsexamina und mit vier Kindern. Und dann die Verachtung für die kinderlose Frau Merkel. Mein Einwand, auch sie sei ja Naturwissenschaftlerin, konterte er mit dem Hinweis, auf angeblich vertuschte, marxistisch-leninistische Verfehlungen. Kommen die immer wieder gegen Merkel hervor gekramten Anwürfe bezüglich ihrer Karriere in der DDR etwa aus diesem Umfeld? Scheint mir nun möglich. Aber zurück zu unserem AfDler: Der angebliche Verfassungsbruch Merkels wurde Thema. Hier mein nächster Versuch einzugreifen: Asylrecht ist nicht zahlenmäßig limitiert, kann also nicht gekappt werden, wenn zu viele da sind! so ich – aber vergebens, da ja „alle“ aus einem sicheren Drittland kämen.

Nächster Einschub: Ich dachte zurück an das Jahr 1993, Änderung § 16 GG: Wie wir verzeifelt argumentierten. Damals nannte man die Asylsuchenden „Scheinasylanten“ (heute ja „Asylbetrüger“ – es meint dasselbe) und wir sagten seinerzeit, dass aus einem angeblichen Inhaltsargument ein formales wird, wenn man sichere Drittländer festlegt. Es spiele dann keine Rolle mehr, aus welchen Gründen die Menschen kämen, sondern nur noch das „Argument“ Reiseweg. Genauso ist es gekommen und die Leute vom Schlag meines Gegenübers haben argumentativ leichtes Spiel. So werden selbst Gefolterte zu „Asylbetrügern“, „Scheinasylanten“.

Einschub Ende zurück in den Speisewagen: Zwischen all diesen biologistischen Sichtweisen, zwischen dieser Leistungsethik und zwischen letztlich völkischer Denkungsart immer wieder enorme Bildungseinschübe des intelligenten Menschen, denn das war und ist er zweifellos. Ein Herr, ein echter Herrenreiter ehemals aus der CDU und nun von Merkel enttäuscht. Er erzählte noch was aus Südamerika. War er Mitglied im Andenpakt?
Als er dann ausstieg, gab er mir seine Karte. Das war dann doch ein Schlag ins Gesicht. Hat er etwa gemeint, ich sympathisiere mit ihm, nur weil ich zugehört habe, also das getan habe, was allerorten verlangt wird, wenn es um PEGIDA und AfD geht? Seis drum: Ich habe Einblicke gewonnen, und deswegen dieser Text hier. Da kann man wegen einer Visitenkarte nicht gleich beleidigt sein.

Was ist nun zu sagen zum geforderten Gespräch mit solchen Menschen? Nun, ich kann dem nur sehr bedingt zustimmen. Reden? Worüber? Mein Fazit ist nüchtern: Mit dem Machtzentrum der AfD und wohl erst Recht der PEGIDA lohnt das Reden nicht, es ist ideologisch verfestigt in seinem Drang nach konservativer Revolte, nach Rücknahme der Freiheit. Denn das ist das Entscheidende und von etlichen schon vor PEGIDA diagnostiziert worden: Die deutschen Konservativen sind in der Revolte und wollen dem Liberalismus ans Leder. Dieses Gespräch zeigte das nochmals eindringlich. Es fiel der Kalk von den Wänden, übrig blieb die nackte Ideologie, geprägt vom völkisch-biologistischen Denken, von Lanz von Liebenfels, von Chamberlain, von Ludendorf und somit in der Summe von der Eugenik. Ganz alter Wein! Wer so verfestigt ist, kann kaum noch erreicht werden, weil das Aufbrechen ideologischer Grundkonzepte selten bis nie gelingt.
Was ich nicht bestätigen kann, ist eine aggressive Grundhaltung nach Europa hin. Nein, einen europäischen Angriffskrieg wollen diese revoltierenden Konservativen nicht führen. „Wir beherrschen ja schon die Welt!“ so mein Gegenüber, als wir vom deutschen Einfluß in der Welt sprachen. Aha! Na dann kann man die Panzer ja im Schrank lassen. Bis der nächste „Schandfriede“ revidiert werden muß….
Das sind also in der Summe die Babys des Neokonservativismus: Biologistisch-völkisches Denken, Abschottung zur Rettung Europas, Ablehnung offener, liberaler Ansätze. Mindestens drei Babys müssen es wegen der demographischen Entwicklung ja sein. Sonst ist mit diesem Konzept die Rente nicht sicher…
Zum geforderten Reden noch dies: Zu reden ist mit den Mitläufern, den Gefährdeten, den Verführbaren. Ein Reden mit dem ideologischen Kern der konservativen Gegenrevolution verpulvert zu viel Energie bei zu wenig Ertrag. Da bin selbst ich ganz Ökonom.

Und mein letzter Gedanke in diesem Spiel ist, dass dieses völkische Denken seit der ersten Asyldebatte der 90er Jahre eigentlich begann, sich zu rehabilitieren. Kann es sein, dass die deutsche Einheit unterteuft unter völkischen Vorzeichen statt fand und wir nun die Früchte der verpfuschten Einheit zu ernten haben? Wer die heutige Zeit verstehen will, muß die Vergangenheit kennen, das 20. Jhd. und speziell v.a. die 90er Jahre, das Einheitsjahrzehnt. Damals scheint mir vieles ins völkische Gleis gelaufen zu sein, unbemerkt auf den roten Lederpolstern der demokratischen Speisewagen.
Als dieser freundliche, ältere Herr ausstieg, hatte ich jedenfalls das Gefühl, dem völkischen Grauen in den freundlichen Schlund geschaut zu haben.

Epilog

Nachdem meine Buchmessenbegegnung und mit ihm meine Speisewagengeschichte ausgestiegen war, kam es zu einem weiteren, kurzen Gespräch. Mit Geschäftsreisenden. Gewissermaßen der Epilog. Wo ich herkäme? Ahh, Buchmesse. Man müscht ma wieda lese. Als ich dann von unserem Baby erzählte, kam prompt die Frage nach „dem Geschäftsmodell“ dieses Kindes. Tja, da wußte ich auch nicht viel zu sagen. Und mein Kopf war ehe mit anderen, mit deutlich wichtigeren Dingen übervoll.

7 Gedanken zu „84

  1. Nun, Du kennst die Rede vom Famulus Wagner: „Herr Doktor, das ist schön von Euch …“ Derart beginnt auch ein Aphorismus Adornos aus den „Minima Moralia“ – freilich in seiner Drastik vor dem Hintergrund des Faschismus geschrieben:

    „Es gibt nichts Harmloses mehr. Die kleinen Freuden, die Äußerungen des Lebens, die von der Verantwortung des Gedankens ausgenommen scheinen, haben nicht nur ein Moment der trotzigen Albernheit, des hartherzigen sich blind Machens, sondern treten unmittelbar in den Dienst ihres äußersten Gegensatzes. Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt; … Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß sie schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat; kein Gedanke ist immun gegen seine Kommunikation, und es genügt bereits, ihn an falscher Stelle und in falschem Einverständnis zu sagen, um seine Wahrheit zu unterhöhlen. Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus. Umgänglichkeit selber ist Teilhabe am Unrecht, indem sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man noch miteinander reden kann, und das lose, gesellige Wort trägt bei, das Schweigen zu perpetuieren, indem durch die Konzessionen an den Angeredeten dieser im Redenden nochmals erniedrigt wird.“

    Hier müßte ein Diskurs zum Verhängnis ansetzen, auch über Geschäftsmodelle und über ein feines Gespräch mit einer jungen Frau auf der Rückfahrt von Frankfurt/Main – allein: Ich will zunächst frühstücken, dann wird der Schreibtisch das Ereignis sein und nach getaner Arbeit fahre ich zur unendlich Geliebten in die andere Stadt, irgendwo in der Bundesrepublik.

    Um es im Blick auf unser Baby im Filmkontext zu schreiben: „Wir werden das Kind schon schaukeln!“

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    • Ein Gespräch über Bäume… zunächst war es in der Tat das Adornosche „nicht zum Streit“ kommen lassen, was mich abwarten ließ. Dann aber – das ist zuzugeben – war es auch Taktik. Ich wollte wissen, was der erzählt und wollte gleichzeitig das von allen Seiten geforderte Zuhören einlösen.
      An alle: Lasst es sein! Es bringt nichts. „Weitergehen, nichts kaufen!“ (Tucholsky ebenfalls in der historischen Situation des deutschen Faschismus).
      Ansonsten: Meine (verspätete) Antwort steht oben.

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    • „Das Grauen, das Grauen….“ Joseph Conrad. So ist es.
      Trost: Ich denke, dass diese Truppe aktuell noch nicht mehrheitsfähig ist. Das war zu Tucholskys Zeiten durchaus anders.
      Eine gültige Prognose diesbezüglich wage ich allerdings nicht! Ich WILL lediglich nicht glauben, dass dieses völkische Konglomerat Zukunft hat.

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