Ein Buch,

das einem vor Jahrzehnten schier unauslöschlich große Eindrücke erleben ließ, wirkt nun beim zweiten Lesen fad und altbacken. Die jahrzehntelang erinnerten und in der Erinnerung immer größer werdenden Bilder, die dieses Buch einst evozierte, sind wie weg. Was bleibt, ist das Erstaunen über das eigene Urteil; das hat mich mal beeindruckt?

Und es bleibt die Frage: Wann hat man sich in seinem Urteil getäuscht? Vor Jahrzehnten oder jetzt?

 

glasperlenspiel

 

Das Online-Magazin für Literatur, Kritik und Zeitgenossenschaft: TELL

So, nun ist es raus, auf der Frankfurter Buchmesse wurde das Geheimnis gelüftet: Ab sofort versuchen  Sieglinde Geisel , Anselm Bühling, Lars Hartmann, Hans-Jost Weyandt , Hartmut Finkeldey , Giacinta Facchetti und meine Wenigkeit den Literaturbetrieb über ein online-Magazin anzusprechen. Was wir brauchen sind Mitstreiter, die mit guten Texten und genügend kritischer Masse dem allgemeinen Schulterklopfen im Betreib eins auswischen wollen. Angsthasen, die sich der vorauseilenden Starloberei verschrieben haben, tun dies bitte woanders.

Mit dieser Ankündigung verlassen wir den sicheren Hafen der Konspiration. Das heißt: Nun muß es auch weiter gehen. Der unten mit dem letzten Wort des Zwölfzeilers zu öffnenden Teaserseite muß allsbald die eigentliche, böse Onlinetat folgen: Das Magazin selbst. Mit Texten, Bildern, Filmen, Musik – also die multimedialen Möglichkeiten des Netzes ausschöpfend. Kritisch und auf den Punkt.

Wir hoffen, dass wir bis zum Frühjahr 2016 online stehen. Wenn nicht gehen wir alle in die Versicherungsbranche in den Außendienst. Versprochen!

Wir sind da!

Go tell it from the mountain
but also show don’t tell!
Wir sind die schlecht gelaunten
Träumer der Plurabelle.

Wir nennen die Nieten Nieten,
die Axt ersetzt uns das Beil.
Der Sprache das Laue verbieten.
Und Harmonien zerteilt unser Pfeil.

Die kritische Masse wird platzen
hinein ins Betriebsgebell.
Wir erzählen von Lügen und Fratzen
deswegen der Name: Tell!

Hosianna crucifige

Karl Ove Knausgård zu kritisieren könnte eine Nichteinladung zur großen Betriebsparty bedeuten und diesem Risiko setzt sich niemand gerne aus, zumal nicht in einer Branche, in der es auf Präsenz und Performance wie sonst kaum ankommt. Also lobt man oder simuliert Lob, was die Sprache hergibt. Weiß man gar überhaupt nicht mehr weiter, wird die Humanmedizin bemüht. Von einer Infektion ist dann die Rede („vom Knausgård-Virus infiziert“). Was den Infizierten offenbar entgangen ist: Gegen eine Infektion – ist sie erst ein Mal gesetzt – kann man halt nichts machen, man kann sie nur überstehen. Der „Kampf“ gegen eine Infektion besteht darin, sie anzunehmen, man muß gewissermaßen alle Phasen der Erkrankung durchwandern. Hinterher wird die lebenslange Immunität stehen. Ob das die geheime Hoffnung der Knausgård-Infizierten ist? Möglich. Aber nicht entscheidend. Es gibt übrigens auch natürliche Immunitäten, weiterhin ein Phänomen, das man „stille Feiung“ nennt. Das bezeichnet das immunologische Auseinandersetzen mit dem infektiösen Agens, ohne dass man selbst erkrankt. Nun ja, das nur so nebenher.

Etwas anderes kommt mir im Angesicht des Hypes in den Sinn, ein Gedanke, der jenseits von Knausgård für alle Überwertungen steht; gewissermaßen eine anthropologische Konstante, die schon in der Bibel eine große Rolle spielte. Ich meine die Schwankheit des menschlichen Herzens. Was passiert, wenn das Fieber vorbei ist, wenn der kritische Geist, den das Virus – das gehört nämlich zur Infektion! – ausgeschaltet hat, sich wieder meldet? Steht dann der Genesene beschämt ob der Schönheit des Rausches und der Hässlichkeit des Katers neben seinem Scherbenhaufen und wundert sich über seine Verführbarkeit?
Alle menschliche Erfahrungen lassen vermuten, dass sich dann die Autoaggressionen gegen den vermeintlichen Verursacher des Rausches wenden werden: Nicht die eigene Disposition – nein – der olle Knausgård war Schuld am Fieber. Aus dem Hosiana ist ein Crucifige geworden, das literaturkritische Sensen Karl Ove Knausgårds dann nur noch eine Frage der Zeit. Unter Brüdern: Ich bin nicht mit jeder Zeile Knausgårds einverstanden (und habe noch lange nicht jede gelesen!), aber DAS hat er nicht verdient. Das hat überhaupt kein Schriftsteller verdient! Nur ist es eben die fast unvermeidbare Folge der derzeitig zu beobachtenden, proto-religiösen Verehrung. Und genau darüber sollten die Choralsänger der Kritik vielleicht ein Mal nachdenken.